Die Zeit des Falterflugs
Im alljährlichen Kreislauf der Natur ist im Sommer die „Zeit des Falterflugs“, so der Titel dieses großformatigen Gemäldes von Franz Radziwill, das eine geheimnisvolle Vorgeschichte besitzt. Zu sehen ist ein Becken mit tiefschwarzem Moorwasser, welches – in Anbetracht der Biografie des Malers – an ein Torfbecken erinnert. Radziwill wuchs in der Nähe des Bremer Torfkanals auf. Zwei weiße Schwäne sind darauf zu sehen. Sie schwimmen so dicht nebeneinander, dass ihre Körper miteinander zu verschmelzen scheinen. Im Vordergrund gemahnt eine brüchige Holzdiele an den Untergang. Fast glaubt man in der Maserung ein Gesicht erkennen zu können. Eine Mauer zieht sich durch den Bildraum. Die offene Pforte führt auf einen See zu, an dessen Ufer eine Häusergruppe steht, die von dichtem Laub umschlossen ist. Auffällig kontrastiert das Wechselspiel verschiedenster Grüntöne mit den ungemischten Farben der Dächer und Giebelwände, die in Blau, Gelb und Rot gestaltet sind. Auf dem flachen Dach des höchsten Gebäudes steht eine Reihe Skulpturen, die wie stille Wächter anmuten. Die Antwort auf die Frage, welches Bauwerk dem Maler dafür die Vorlage lieferte oder ob selbiges eine Bilderfindung ist, steht noch aus. Der hohe Berg im Hintergrund lässt sich als Erinnerung an den Süllberg in Hamburg-Blankenese interpretieren. Bis Radziwill in Dangast sesshaft wurde, verbrachte er viel Zeit in Hamburg. Das Gebäude in der Ferne, das mit seinen Türmen und dem roten Dach über die Horizontlinie ragt, ähnelt wiederum dem Bremer Wasserturm, der auch als „umgedrehte Kommode“ bekannt ist. Menschenleer ist die Landschaft. Der titelgebende Falterflug zeigt sich rechts im Bild. Aus dem dichten Laub kommen allerlei fantastische Wesen hervor, während sich zugleich der Himmel verdunkelt. Abstrakte Zeichen und ein Sichelmond tauchen aus den Wolken auf, während sich die oberen Äste kahl im Wind biegen. Laut Werkverzeichnis stammt das Gemälde aus dem Jahr 1944, doch Radziwill hat das Bildgeschehen in mehreren Schritten entwickelt. Dieses „Weitermalen“, wie er sein späteres Eingreifen in bestehende Werke bezeichnete, betrachtete Radziwill als völlig legitim. War er doch der Urheber seiner Werke. Ein Foto des Malers aus dem Jahr 1955 mit dem Gemälde im Hintergrund zeigt, dass die Skulptur und das Muster am Boden im Bildvordergrund erst nach 1955 hinzufügt wurden. Auch sind die Himmelserscheinungen erst später hinzugekommen. Geheimnisvoll an diesem Gemälde ist, dass von ihm eine scheinbar ältere, zweite Fassung existiert, die erst viele Jahre nach seinem Tode bekannt wurde.
Das Werk zeigt die gleiche Häusergruppe, allerdings ist die Mauer dort verputzt und weiß getüncht. Im Vordergrund liegt ein Schiff am Rande eines grasbewachsenen Ufers trocken und rechts daneben steht eine Frau, die aus dem Bild heraus den Betrachter anblickt. Ihr Äußeres gleicht dem Personal in Radziwills Gemälden um 1925. Das Gemälde war über eine lange Zeit hinweg aufgerollt und dadurch so verspannt, dass es sich nicht mehr schadlos auf einen Keilrahmen aufspannen lässt. Hat Radziwill das Motiv deshalb 1944 nochmals aufgegriffen? Mehr über diesen Fund erfahren Sie in der Online-Führung.